Die folgende Kurzgeschichte entstand im Rahmen meines Schreibkurses für die Schule des Schreibens. Die Aufgabe war diesmal, Sachinformationen in einer Geschichte unterzubringen und in die Geschichte zu verweben, ohne belehrend zu wirken. Dies habe ich zwar in den letzten Geschichten Marthas Schicksal und Das Dienstmädchen im Hause Donnerberg auch schon gemacht, jedoch fiel es mir dort leichter, weil ich als Historikerin leicht in andere Epochen eintauchen kann. Für die Geschichte, die ich nun hier präsentiere, habe ich mich dem Wissen meiner Arbeit in einer Hausverwaltung bedient. An dem Schreiben der Geschichte und Thematik hatte ich viel Freude und so werden wohl noch einige Geschichten entstehen, die in der WEG Märchenstraße 5-9 in 49124 Grimmstadt spielen.
Die Eigentumswohnung
Schneewittchen hatte nicht lange nachdenken müssen, ob sie ihr muffiges Schloss gegen eine moderne Eigentumswohnung tauscht, als die Sieben Zwerge eines Tages vor ihrer Tür standen und ihr erzählten, dass sie von ihrem Häuschen im Wald nun in eine Eigentumswohnung in die Stadt ziehen und sie fragten, ob sie mitkommen wolle. Sie sehnte sich schon lange nach einem Neuanfang, denn bereits kurz nach ihrer Hochzeit war ihr Prinz mit der nächsten Prinzessin verschwunden. Ihrem Exmann verdankte Schneewittchen zwar auf der einen Seite ihr Leben, da es seine Diener waren, die den Sarg hatten fallen lassen und sie so von dem vergifteten Apfelstück befreiten, andererseits war er der Grund für die hässliche Scheidung. Jetzt war der Umzug in die Eigentumswohnung abgeschlossen und sie endlich wieder glücklich.
Nun aber trug es sich zu, dass eine weitere Wohnung im Haus der Wohnungseigentümergemeinschaft, WEG Märchenstraße 5-9 in 49124 Grimmstadt, zum Verkauf stand. Schneewittchen bekam davon zunächst nichts mit. Erst als eines Tages der Umzugswagen vor der Haustür stand und Rapunzel den Möbelpacker anschrie, doch vorsichtiger mit dem Karton umzugehen, wurde Schneewittchen bewusst, dass etwas vor sich ging. Schnell schlüpfte sie in ihre Puschen und eilte zu Rapunzel ins Treppenhaus. Die beiden hatten sich immer gut verstanden, denn auch Rapunzels Scheidung von Ihrem Prinzen war alles andere als harmonisch verlaufen. Ihre schrecklichen Erfahrungen hatte die beiden stets verbunden.
„Es gibt einen Neuen, diesmal einen wirklichen Prinzen“, schwärmte Rapunzel, nachdem Schneewittchen gefragt hatte, was los sei. Sie liebe ihn mehr als alles andere auf der Welt und habe so beschlossen, ihre Wohnung an eine ältere Frau zu verkaufen. „Du gibst deine Wohnung und unsere Hausgemeinschaft für einen Mann auf?“, fragte Schneewittchen ungläubig. Rapunzel nickte. Schneewittchen war schockiert und dachte an die vielen gemeinsamen Abende mit Rapunzel. Auf einmal drängten sich ihr so viele Fragen auf und ihr wurde plötzlich bewusst, dass sich zwischen ihr und Rapunzel in den letzten Wochen irgendwas verändert hatte. Sie hatte es ignoriert, es nicht wahrhaben wollen, dass sich eines Tages ein Mann zwischen sie drängen könnte. Doch jetzt war es passiert. Bevor Schneewittchen jedoch noch irgendetwas sagen konnte, war Rapunzel wieder verschwunden und Schneewittchen ging mit hängendem Kopf in ihre Wohnung zurück.
Tage und Wochen vergingen, in denen Rapunzels Wohnung leer stand und Schneewittchen ihre Freundin vermisste, bis eines Tages erneut ein Umzugsauto vor der Tür hielt. Schneewittchen interessierte es nicht. Der Schmerz über den Auszug der Freundin war noch immer groß. So nahm sie auch nur am Rande wahr, dass die Möbelpacker einen Spiegel aus dem LKW holten und eine Frau besorgt das Geschehen beobachtete.
Tage später auf dem Weg in den Keller begegnete Schneewittchen jener Frau, die neu in Ihre Eigentümergemeinschaft gekommen war. Sie schleppte gerade ihren Wäschekorb die Treppe herunter, als diese ihr entgegenkam. Schneewittchen schaute hoch und erschrak. Plötzlich stand ihre Stiefmutter vor ihr, die Frau, die ihr nach dem Leben getrachtet, die sie geschnürt und zweimal vergiftet hatte. Für ein paar Sekunden war Schneewittchen wie erstarrt, ihr wurde heiß und kalt, sie brachte keinen Ton heraus. Nachdem sie ihre Stiefmutter einige Sekunden angestarrt hatte, ließ sie ihren Wäschekorb fallen, drehte sich um, rannte die Treppe hoch, stürzte in ihre Wohnung und verriegelte die Tür. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Wie konnte es sein, dass diese Frau plötzlich vor ihr stand? Schneewittchen hatte nach ihrer Hochzeitsfeier gehofft, dass sie ihre Stiefmutter nie wieder sehen musste. Sie erinnerte sich, wie diese so lange in glühenden eisernen Pantoffeln hatte tanzen müssen, bis sie wie tod zu Boden gefallen war. Doch als diese Frau soeben vor ihr gestanden hatte, war Schneewittchens ganze Angst und Panik wieder in ihr hochgekrochen. Sie verstand plötzlich, dass ihre Stiefmutter, wie sie selbst, überlebt hatte.
Wenig später klingelte es an der Tür. Schneewittchen erstarrte. Sie konnte die Tür nicht öffnen, sie wollte dieser Frau nicht nochmal in die Augen schauen und verkroch sich stattdessen auf ihre Couch. In dem Moment hörte sie das Summen ihres Handys. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass es einer der Zwerge war, der ihr eine Nachricht geschrieben hatte. „Wir haben deine Wäsche gefunden und machen uns sorgen. Mach auf!“ stand dort. Langsam und mit zitternden Beinen schlurfte Schneewittchen an die Tür, öffnete und sah alle sieben Zwerge aufgeregt vor der Tür plappern. „Wieso hast du deine Wäsche in den Flur geschmissen?“, löcherten die Zwerge ihre Freundin mit Fragen und Schneewittchen winkte sie alle sieben herein. Schließlich erzählte sie von dem neuen Mitglied ihrer Eigentümergemeinschaft. Die Zwerge waren entsetzt. Sie liebten ihr Schneewittchen und wussten, welch Qualen sie wegen ihrer Stiefmutter durchlitten hatte. Sie fühlten sich hilflos, hatten Angst um sie und wussten keinen Rat. Plötzlich rief Happy: „Ich hab’s! Wir brauchen einen Anwalt. Der wird bestimmt einen Weg finden, den Kauf rückgängig zu machen.“
Einige Tage später hatten sie einen Termin bei einem Fachanwalt. Sie schilderten ihm die Geschichte. Der Anwalt fragte, ob Schneewittchen die Teilungserklärung der WEG mitgebracht habe. Sie bejahte und übergab diese dem Anwalt. Er begann zu lesen und schaute die acht ernst an. „Laut diesem Dokument ist für den Verkauf der Wohnung lediglich die Zustimmung des Hausverwalters notwendig“, sagte er. Auch wenn er Verständnis für Schneewittchens Sorgen hatte, so musste er ihr leider mitteilen, dass der Kauf der Wohnung durch die Stiefmutter rechtens gewesen war.
Auf dem Weg nach Hause spürten alle, dass sich ein düsterer Schleier über ihr Paradies gelegt hatte. Schneewittchen wurde klar, dass sie einen Weg finden musste, mit ihrer Stiefmutter unter einem Dach zu leben.
Nachdem sie einige Tage über Ihre Lage nachgedacht hatte, beschloss sie, das Gespräch mit der Stiefmutter zu suchen. Die beiden Frauen setzten sich zusammen und sprachen lange miteinander. Es zeigte sich, dass die Stiefmutter es nicht ertrug zu hören, dass sie nicht die Schönste im ganzen Land sei. Andererseits hatte Sie nach der Hochzeitsfeier Schneewittchens gelernt, was es bedeutete, allein zu sein. Als sie mit ihren verbrannten Füßen in der Klinik gelegen hatte, war dort niemand gewesen, der sie besucht oder nach ihr gefragt hatte. Die beiden Frauen beschlossen einen Neuanfang ohne Neid und den Spiegel, der unter einem Laken verhüllt in den Keller gestellt wurde. So schnell würde er kein Unglück mehr anrichten. Allerdings war es noch ein langer Weg zu einem Miteinander der beiden Frauen, denn sie hatten sich gegenseitig nach dem Leben getrachtet und das würden beide so schnell nicht vergessen.
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