Die folgende Kurzgeschichte entstand im Rahmen meines Schreibkurses für die Schule des Schreibens. Wer mehr zur Schule des Schreibens wissen möchte, kann dazu gerne meinen folgenden Blogbeitrag lesen: Der Schreibkurs – gute oder schlechte Entscheidung?
Die Aufgabe war emotionalen Druck auf eine Figur auszuüben. Die Figur sollte daraufhin eine Entscheidung treffen, die ihr Leben verändert.
Triggerwarnung: Die folgende Geschichte enthält Gewalt und sexuelle Gewalt gegen eine Frauen.
Marthas Schicksal
In dem einst so ebenmäßigen Gesicht zeichneten sich erste Fältchen ab. Der Kummer, die harte Arbeit und die Gewalt der letzten Jahre hatten äußerlich wie auf ihrer Seele Spuren hinterlassen. Kurz nach ihrer Anstellung als Dienstmädchen bei Familie Meyer hatte das Martyrium begonnen. „In die Hölle kommen nur böse Mädchen“, hatte ihre Mutter einst gesagt. Sie musste wohl eines sein, obwohl sie immer in die Kirche gegangen war, gebetet und auch sonst ein frommes Leben geführt hatte.
Sie saß im Sonntagsgottesdienst, konnte sich aber nicht auf die Predigt konzentrieren, der sie sonst immer eifrig lauschte. Sie fühlte sich allein zwischen all den Menschen. Viele von ihnen sah sie jeden Sonntag und dennoch hatte sie sich keinem von ihnen je anvertrauen können. Diese Woche fühlte sie sich besonders verloren, denn am Mittwoch hatte sie zufällig das Gespräch ihres Dienstherrn und seiner Ehefrau mitbekommen. Sie wusste, dass es eine Sünde war, die Herrschaften zu belauschen, aber es war um ein neues Dienstmädchen gegangen. Ein Thema, das sie schließlich betraf.
Martha war seit etwa zehn Jahren bei den Meyers als Dienstmädchen beschäftigt und fast ebenso lange passierte das Schreckliche, das Grauen, das, was sie in ihrem tiefsten Inneren eingeschlossen hatte und über das sie nie würde sprechen dürfen. Sie konnte niemandem erzählen, was Herr Meyer ihr immer wieder antat. Nachdem es das erste Mal passiert war, hatte er sie angeschaut und gesagt: „Du wirst es für dich behalten, denn wer wird dir schon glauben.“ Damit hat er wohl recht, dachte sie verzweifelt. Wer würde einem Dienstmädchen schon glauben, wenn sie jemandem sagte, dass ihr Dienstherr, der angesehene Herr Doktor, unchristliche Dinge mit ihr anstellte. Über die Folgen für ihr Leben, sollte sie je über ihr Schicksal sprechen, wollte sie lieber nicht nachdenken. Wer würde sie noch anstellen, wenn herauskäme, dass sie ihre Dienstherren verführte? Keine Ehefrau würde riskieren, sich so ein Mädchen ins Haus zu holen, bei der sie Angst um die Treue des Ehemannes haben müsste. Dass die Dinge von ihrer Seite nicht freiwillig geschahen, dass würde sicher niemand so sehen. Und was sollte mit ihr passieren, wenn sie keine neue Anstellung bekam? Nach Hause zu ihren Eltern konnte sie nicht gehen. Der kleine Hof warf schon für ihre Eltern nicht genug ab. Und was würde die Mutter sagen, wenn ihre Tochter nach Hause käme, weil sie sich ihrem Schicksal nicht gebeugt hatte? Marthas Mutter hatte sich dem ihren stets gefügt, sich ihrem herrischen Mann untergeordnet und getan, was von einer guten Ehefrau, Mutter und Christin erwartet wurde. Eine Tochter, die sich ihrem Dienstherrn widersetzt, wäre ihr bestimmt keine liebe Tochter.
Zu Beginn hatte es weh getan und es war schrecklich für sie, aber zumindest war Herr Meyer noch sanft mit ihr umgegangen. Je länger ihr Martyrium dauerte, umso mehr begann er sie zu schlagen und andere schreckliche Dinge zu tun. Herr Meyer sagte, dass das ihre Schuld sei, dass er sie so hart anfasse. Je mehr ihr Körper sich verändere und weiblicher würde, umso mehr müsse er andere Dinge tun, damit sie seine Lust befriedige. Sie versuchte, die weiblichen Rundungen zu verhindern, indem sie wenig aß, aber schließlich half es nichts. Der Zahn der Zeit nagte an ihr und sie konnte den körperlichen Veränderungen nicht Einhalt gebieten. Jugendliches Aussehen ließ sich nicht auf ewig erhalten.
Jetzt also saß sie in der Kirchenbank und begann ein Zwiegespräch mit Gott. Sie ging zwar davon aus, dass dieser sie schon lange verlassen hatte, doch an wen sollte sie sich in der Not wenden? Sie hatte sonst niemandem zum Reden. Selbst Frau Meyer, die wusste, was ihr Mann Martha antat, schaute weg, und als sie einmal versucht hatte, mit ihr zu sprechen, hatte sie gesagt, dass sie davon nichts hören wolle.
Martha schloss die Augen und rief in ihrer Verzweiflung Gott an: „Lieber Vater im Himmel, du weißt, dass die Meyers in der letzten Woche darüber gesprochen haben, dass es Zeit für ein neues Dienstmädchen sei. Ich bin nicht eigennützig, es geht mir nicht um mich. Ich denke an das neue Mädchen, das in das Haus einziehen wird, nachdem ich es verlassen habe. Herr Meyer wünscht eine Jüngere und mir ist klar, dass auch sie neben den Pflichten im Haushalt ihrem Dienstherrn zur Verfügung stehen muss. Du darfst das nicht zulassen. Herr, wenn du mir jetzt kein Zeichen gibst, dass du dem neuen Mädchen helfen wirst, dann muss ich mein Schweigen brechen. Dann werde ich noch heute in den Beichtstuhl treten und von meinem Leid erzählen und mein Gewissen erleichtern.“
Martha erhielt kein Zeichen von Gott.
Wenig später betrat sie den Beichtstuhl und sprach darüber, welche Sünden sie begangen hatte, weil sie mit ihrem kindlichen Aussehen Herrn Meyer verführt hatte, und sie erklärte dem Pfarrer, dass sie jetzt mit ihrem Schweigen brach, um einem anderen Mädchen zu helfen. Sie hoffte, damit vor Gott ein gutes Werk zu tun und seine Gnade zurückzugewinnen.
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